Kein Gastronomieproblem, sondern ein Kapitalismusproblem

12. Okt. 2024

Unsere Antwort auf das Interview mit Professor Jochen Rädeker (Gault&Millau) in der Süddeutschen Zeitung, hier in ungekürzter Fassung: 

KORREKTUR: In der am 12.10.2024 veröffentlichten Version dieser Replik gaben wir an, dass Jochen Rädeker uns noch nie besucht habe. Herr Rädeker hat uns glaubhaft versichert, bereits zweimal bei uns zu Gast gewesen zu sein. Wir haben den entsprechenden Satz entfernt.

In Ihrer Ausgabe vom 29.08.2024 äußert der Herausgeber des Gault&Millau in Deutschland, Professor Jochen Rädeker, scharfe Kritik an der aktuellen Preisentwicklung in der Gastronomie. Deren Ursache sieht er dabei “geizigen und gierigen Wirten”. Anstatt einen tieferen Blick auf das System zu wagen, wälzt Rädeker die Verantwortung auf Individuen wie mich selbst ab. Dies liest sich vielleicht gut für frustrierte Gäste – und ja, das verstehe ich, denn ich bin nicht nur Wirt und Unternehmer, sondern auch selber gerne Gast – ignoriert jedoch den größeren Kontext.

Für den preislichen Status Quo, dessen Verlust Rädeker so bedauert, muss Raubbau betrieben werden, und zwar unentwegt, an Mensch, Tier und Umwelt. Natürlich haben wir diese Tatsache in der gehobenen Gastronomie gerne geleugnet; die schöne, champagnerschwangere Illusion, die wir unseren Gästen verkaufen, ist Teil des Geschäftsmodells. Diese lässt sich in den Zeiten mehrfacher, sich überlagernder Krisen – Pandemie, Krieg, Inflation, Fachkräftemangel – natürlich nicht zu gleichen Konditionen aufrechterhalten. Dennoch ist dies kein Problem, das erst neuerdings entstanden ist, sondern zeigt vielmehr, wie dysfunktional und wenig nachhaltig das System seit jeher ist.

Damit Essen gehen so günstig ist, wie Rädeker sich dies scheinbar wünscht, müssen Preise bei Produzent*innen gedrückt werden, Praktikant*innen unbezahlt bleiben, Küchenteams 50-70 Stunden ohne Lohnausgleich schuften. Das ist die Realität in deutschen Hochleistungsküchen. Deswegen würde ich sogar noch weitergehen: Das Essen ist nicht neuerdings zu teuer, sondern es ist immer noch zu billig. Den absehbaren Einwand, dass dies in keinem Verhältnis mehr zu dem stehe, was Menschen für Speisen ausgeben möchten oder können, nehme ich dabei durchaus an. Denn da nähern wir uns dem Kern der Sache: Es handelt sich hier nicht um ein Gastronomieproblem, sondern um ein Kapitalismusproblem.

Dass Herr Rädeker in seiner wenig differenzierten Polemik dann noch mein Lokal, das Nobelhart & Schmutzig, als Negativbeispiel gastronomischer Gier und Abzocke heranzieht, verbitte ich mir. Rädeker wirft uns vor, nur noch die “halbe Leistung zum gleichen Preis” zu erbringen. Das ist sachlich falsch. Ja, 2019 haben bei uns zehn kleine, filigrane Gänge 120 Euro gekostet. Seit April 2024 kosten sechs größere, wirtshäusrige Gänge 115/130 Euro. Das heißt explizit nicht, dass wir jetzt nur noch 70% vom Original bieten. Es handelt sich hierbei nicht um eine Reduktion, sondern um eine grundlegende Konzeptänderung, deren Details so wie die jeder vorhergehenden Preisänderung transparent auf unserer Homepage nachzulesen sind.

Was ich in Rädekers Argumentation jedoch besonders auffällig finde, ist das Wort “Leistung”. Meine Auffassung meiner Leistung als Wirt ist eben nicht nur das, was unmittelbar dem Gast zu Gute kommt. Meine Leistung ist auch der faire, wettbewerbsfähige, inklusive Arbeitsplatz, den ich meinen Angestellten biete. Es ist der Beitrag, den ich zur lokalen Wirtschaft, zu unserer Gemeinschaft aus Produzent*innen und Gastronom*innen und zur kulinarischen Identität des Landes Berlin-Brandenburg leiste. Es ist die Art, wie ich mich für eine Landwirtschaft einsetze, die ich als verantwortungsvoll und zukunftsweisend erachte. All das ist mit Entscheidungen und Geschäftspraktiken verbunden, die ich gerne unter dem Begriff einer “wertezentrierten Gastronomie” zusammenfasse. Genau dafür wurden wir übrigens dieses Jahr bei “The World’s 50 Best Restaurants” mit dem “Sustainable Restaurant Award” ausgezeichnet.

Keine Frage: Idealismus ist teurer als Ausbeutung. Die Kosten reichen wir an Gäste durch. An wen auch sonst? Natürlich schmeckt deren Schnitzel nicht besser, nur weil das Küchenteam 40 anstatt 50+ Stunden in der Woche arbeitet und wir alle Praktikant*innen vernünftig bezahlen. Vielleicht ist es unseren Gästen aber genau das wert. Weil wir eben nicht mehr nur Schnitzel und Illusion verkaufen, sondern absolute Konsequenz in unserem Bestreben für eine bessere, verantwortungsvolle Konsum- und Speisekultur.

Es ist schade, dass Rädeker als Funktionär eines der wichtigsten Gastronomieführer unsere Vision nicht teilt oder nicht kennt. Deswegen würden wir uns freuen, wenn er uns tatsächlich einmal persönlich besuchen kommt. Und zwar nicht nur zum Essen, zu dem wir ihn gerne einladen. Vielmehr möchten wir anbieten, dass er einmal einen Tag im Nobelhart & Schmutzig verbringt, sich mit all denen austauscht – Mitarbeitenden, Produzent*innen, Freelancer*innen – die jeden Tag so durch die Tür kommen. Gerne darf er dabei auch einmal einen Blick in die Bücher werfen und schauen, welche Kosten welchen Einnahmen tatsächlich gegenüberstehen.

Auch wenn ich Rädekers Kritik hiermit entschieden zurückweise, nehme ich sie trotzdem ernst. Ich vermute, es geht hier gar nicht um die Anzahl unserer Gänge oder genaue Wareneinsätze. Vielmehr scheint sich hinter der vordergründig sachlichen Argumentation eine wertvolle emotionale Wahrheit zu verbergen: Für Rädeker ist der Zauber aus dem Erlebnis Gastronomie verschwunden. Das Gebotene passt gefühlt einfach nicht mehr zum Preis. Das ist für uns Gastronom*innen ein wichtiges Feedback – und tatsächlich ein Problem. Dessen Lösung werden wir im Beharren auf ein kaputtes System und im Fokus auf nur eine Branche jedoch kaum finden.

Hochachtungsvoll
Ihr Billy Wagner

Kein Gastronomieproblem, sondern ein Kapitalismusproblem

12. Okt. 2024

Unsere Antwort auf das Interview mit Professor Jochen Rädeker (Gault&Millau) in der Süddeutschen Zeitung, hier in ungekürzter Fassung: 

KORREKTUR: In der am 12.10.2024 veröffentlichten Version dieser Replik gaben wir an, dass Jochen Rädeker uns noch nie besucht habe. Herr Rädeker hat uns glaubhaft versichert, bereits zweimal bei uns zu Gast gewesen zu sein. Wir haben den entsprechenden Satz entfernt.

In Ihrer Ausgabe vom 29.08.2024 äußert der Herausgeber des Gault&Millau in Deutschland, Professor Jochen Rädeker, scharfe Kritik an der aktuellen Preisentwicklung in der Gastronomie. Deren Ursache sieht er dabei “geizigen und gierigen Wirten”. Anstatt einen tieferen Blick auf das System zu wagen, wälzt Rädeker die Verantwortung auf Individuen wie mich selbst ab. Dies liest sich vielleicht gut für frustrierte Gäste – und ja, das verstehe ich, denn ich bin nicht nur Wirt und Unternehmer, sondern auch selber gerne Gast – ignoriert jedoch den größeren Kontext.

Für den preislichen Status Quo, dessen Verlust Rädeker so bedauert, muss Raubbau betrieben werden, und zwar unentwegt, an Mensch, Tier und Umwelt. Natürlich haben wir diese Tatsache in der gehobenen Gastronomie gerne geleugnet; die schöne, champagnerschwangere Illusion, die wir unseren Gästen verkaufen, ist Teil des Geschäftsmodells. Diese lässt sich in den Zeiten mehrfacher, sich überlagernder Krisen – Pandemie, Krieg, Inflation, Fachkräftemangel – natürlich nicht zu gleichen Konditionen aufrechterhalten. Dennoch ist dies kein Problem, das erst neuerdings entstanden ist, sondern zeigt vielmehr, wie dysfunktional und wenig nachhaltig das System seit jeher ist.

Damit Essen gehen so günstig ist, wie Rädeker sich dies scheinbar wünscht, müssen Preise bei Produzent*innen gedrückt werden, Praktikant*innen unbezahlt bleiben, Küchenteams 50-70 Stunden ohne Lohnausgleich schuften. Das ist die Realität in deutschen Hochleistungsküchen. Deswegen würde ich sogar noch weitergehen: Das Essen ist nicht neuerdings zu teuer, sondern es ist immer noch zu billig. Den absehbaren Einwand, dass dies in keinem Verhältnis mehr zu dem stehe, was Menschen für Speisen ausgeben möchten oder können, nehme ich dabei durchaus an. Denn da nähern wir uns dem Kern der Sache: Es handelt sich hier nicht um ein Gastronomieproblem, sondern um ein Kapitalismusproblem.

Dass Herr Rädeker in seiner wenig differenzierten Polemik dann noch mein Lokal, das Nobelhart & Schmutzig, als Negativbeispiel gastronomischer Gier und Abzocke heranzieht, verbitte ich mir. Rädeker wirft uns vor, nur noch die “halbe Leistung zum gleichen Preis” zu erbringen. Das ist sachlich falsch. Ja, 2019 haben bei uns zehn kleine, filigrane Gänge 120 Euro gekostet. Seit April 2024 kosten sechs größere, wirtshäusrige Gänge 115/130 Euro. Das heißt explizit nicht, dass wir jetzt nur noch 70% vom Original bieten. Es handelt sich hierbei nicht um eine Reduktion, sondern um eine grundlegende Konzeptänderung, deren Details so wie die jeder vorhergehenden Preisänderung transparent auf unserer Homepage nachzulesen sind.

Was ich in Rädekers Argumentation jedoch besonders auffällig finde, ist das Wort “Leistung”. Meine Auffassung meiner Leistung als Wirt ist eben nicht nur das, was unmittelbar dem Gast zu Gute kommt. Meine Leistung ist auch der faire, wettbewerbsfähige, inklusive Arbeitsplatz, den ich meinen Angestellten biete. Es ist der Beitrag, den ich zur lokalen Wirtschaft, zu unserer Gemeinschaft aus Produzent*innen und Gastronom*innen und zur kulinarischen Identität des Landes Berlin-Brandenburg leiste. Es ist die Art, wie ich mich für eine Landwirtschaft einsetze, die ich als verantwortungsvoll und zukunftsweisend erachte. All das ist mit Entscheidungen und Geschäftspraktiken verbunden, die ich gerne unter dem Begriff einer “wertezentrierten Gastronomie” zusammenfasse. Genau dafür wurden wir übrigens dieses Jahr bei “The World’s 50 Best Restaurants” mit dem “Sustainable Restaurant Award” ausgezeichnet.

Keine Frage: Idealismus ist teurer als Ausbeutung. Die Kosten reichen wir an Gäste durch. An wen auch sonst? Natürlich schmeckt deren Schnitzel nicht besser, nur weil das Küchenteam 40 anstatt 50+ Stunden in der Woche arbeitet und wir alle Praktikant*innen vernünftig bezahlen. Vielleicht ist es unseren Gästen aber genau das wert. Weil wir eben nicht mehr nur Schnitzel und Illusion verkaufen, sondern absolute Konsequenz in unserem Bestreben für eine bessere, verantwortungsvolle Konsum- und Speisekultur.

Es ist schade, dass Rädeker als Funktionär eines der wichtigsten Gastronomieführer unsere Vision nicht teilt oder nicht kennt. Deswegen würden wir uns freuen, wenn er uns tatsächlich einmal persönlich besuchen kommt. Und zwar nicht nur zum Essen, zu dem wir ihn gerne einladen. Vielmehr möchten wir anbieten, dass er einmal einen Tag im Nobelhart & Schmutzig verbringt, sich mit all denen austauscht – Mitarbeitenden, Produzent*innen, Freelancer*innen – die jeden Tag so durch die Tür kommen. Gerne darf er dabei auch einmal einen Blick in die Bücher werfen und schauen, welche Kosten welchen Einnahmen tatsächlich gegenüberstehen.

Auch wenn ich Rädekers Kritik hiermit entschieden zurückweise, nehme ich sie trotzdem ernst. Ich vermute, es geht hier gar nicht um die Anzahl unserer Gänge oder genaue Wareneinsätze. Vielmehr scheint sich hinter der vordergründig sachlichen Argumentation eine wertvolle emotionale Wahrheit zu verbergen: Für Rädeker ist der Zauber aus dem Erlebnis Gastronomie verschwunden. Das Gebotene passt gefühlt einfach nicht mehr zum Preis. Das ist für uns Gastronom*innen ein wichtiges Feedback – und tatsächlich ein Problem. Dessen Lösung werden wir im Beharren auf ein kaputtes System und im Fokus auf nur eine Branche jedoch kaum finden.

Hochachtungsvoll
Ihr Billy Wagner