Vom Küchenchef zur kulinarischen Leitung – von schädlichen Traditionen zu einer modernen Unternehmensstruktur in der Gastronomie

18. Apr 2024

Wir haben im Nobelhart & Schmutzig den Küchenchef abgeschafft. Das heißt: Micha Schäfers Stelle nennt sich ab sofort kulinarische Leitung.

Bevor Sie sich nun Sorgen um die Zukunft Ihrer besemmelbröselten Babykohlrabis und Liebstöckel-Radieschen machen, geben wir direkt Entwarnung: Für Sie bzw. an unserer Speisefolge ändert sich nichts. Denn Micha entwirft auch weiterhin unsere Speisefolge, probiert und kuratiert Lebensmittel, entwickelt Gerichte, verantwortet die Anbauplanung mit unseren fantastischen Erzeuger*innen und betreut unsere Auszubildenden.

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Was also ist anders?

Unsere Kommunikation, die ab sofort die tatsächliche Arbeitsteilung in der Küche widerspiegelt. Die Wertschätzung, die wir damit unserem Team und auch Micha gegenüber ausdrücken. Und vor allem das Zeichen, das wir damit hinsichtlich der Weiterentwicklung unserer Branche setzen möchten.

Durch diese Umbenennung bzw. -strukturierung tragen wir einer Tatsache Rechnung, die schon lange Realität im Nobelhart & Schmutzig (und eigentlich überall) ist: Es sind viele Hände, die die tägliche Arbeit verrichten. Denn auch wenn Micha weiterhin die kreative und konzeptionelle Verantwortung für nobelharte Kulinarik trägt, liegt die operative Durchführung de facto im ganzen Team. Und das gehört honoriert.

Diese Tatsache hinter dem griffigen Begriff “Küchenchef” zu verstecken, ist Standard in der (Spitzen-)Gastronomie. Auch wir haben das seit unserer Eröffnung 2015 ziemlich unreflektiert übernommen. Jedoch haben wir uns in den letzten drei Jahren intensiv mit der Fragestellung beschäftigt, wie wir wirklich gute und nachhaltige Arbeitsplätze in der Gastronomie schaffen können: Mit vernünftigen Arbeitsbedingungen, einem ordentlichen Gehalt, in einem wertschätzenden Umfeld. (Ein Teil dieser Anstrengung ist zum Beispiel auch unser Guide of Conduct.)

Im Zuge dieser Analyse haben wir Strukturen und Stellenbeschreibungen mit dazugehörigen Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen genau untersucht. Dabei haben wir festgestellt, dass die auch in unserer Küche gängigen, traditionellen Bezeichnungen nicht nur nicht zutrafen, sondern gleich zwei Parteien schadeten: Der ziemlich hart arbeitenden, aber in der Kommunikation bislang recht gesichtslosen Belegschaft genauso wie dem (damaligen) Küchenchef selbst.

Ersteres dürfte dabei auf der Hand liegen: Jeden Tag übernehmen unsere Mitarbeitenden gemäß ihres Aufgabengebietes und ihrer Erfahrung viel Verantwortung und sorgen dafür, dass Sie einen tollen Abend bei uns haben. Dazu muss Micha nicht bei jedem Schritt anwesend sein. Unser kompetentes und eingespieltes Team weiß, seine Vision operativ umzusetzen. Und dafür verdient es entsprechende Anerkennung, die wir ab sofort auch öffentlich klarer aussprechen möchten. Namentlich sind für die operative Leitung Alexander Jordt, Aljoscha Füting zuständig.

Doch wie nutzt der neue Titel dem nunmals ehemaligen Küchenchef selbst?

Micha darf sich nun voll und ganz auf das konzentrieren, was Alleinstellungsmerkmal ausmacht – ohne eine Stellenbeschreibung, die irgendwie suggeriert, er müsse doch eigentlich in jedem Moment in der Küche anwesend oder in jedem operativen Thema involviert sein.

Dies halten wir für eines der größten systemischen Probleme in unserer Branche: Die Überforderung, die quasi per Definition im Job “Küchenchef*in” verankert ist. Zu jeder Zeit 120% kreativ und operativ verantwortlich zu sein, ist von keiner Einzelperson zu leisten – bzw. es ist zu leisten und wird auch von entsprechend vielen so geleistet, jedoch mit entsprechenden Folgen und Begleiterscheinungen. Darin liegt auch eine der Ursachen für die oft beschworenen “toxischen” Zustände in Küchen, mit ihrem zentralen Topos des schreienden, koksenden Küchenchefs.

Gut, in unserer Küche wurde nie geschrien oder geschnupft. Micha ist eher der Typ, der implodiert.

Dennoch wünschen wir, dass in unserer Industrie endlich mal Klartext diesbezüglich gesprochen wird. Allein mit der kreativen und konzeptionellen Leistung eines*einer Küchenchef*in wären locker 50 Stunden die Woche gefüllt. Die Erwartung, dass selbige*r dazu noch jedes Mise-en-place mitgestaltet, den Abendservice leitet, HACCP-Pläne persönlich kontrolliert, sich um den Müll sowie die Reinigungsmittelbestellung kümmert, Handwerker*innen- und Hausmeister*inneneinsätze koordiniert, Dienstpläne schreibt und Mitarbeitendengespräche führt, ist weder realistisch noch wünschenswert. Bei solchem Druck ist es kein Wunder, wenn Küchenchefs trinken; das Bedürfnis nach derartigen Regulativen ist bei planmäßiger Überforderung praktisch Teil der Stellenbeschreibung. Und genau das sollten wir überdenken.

Mit Michas Umdeklarierung bekommt er die Chance, auch seine unverwechselbare Handschrift weiter zu verfeinern. Wir freuen uns, dass er nun auch jenseits der nobelharten Küche anzutreffen ist, sich in Popups oder Kollaborationen kreativ betätigt und so auch wieder wertvolle Impulse zurück zu uns an die Friedrichstraße trägt.

Vor allem freuen wir uns aber, dass wir ein tolles Team haben, welches die operative Verantwortung in vollem Maße trägt und Ihnen jeden Tag einen schönen Abend bereitet – und dafür nun endlich entsprechende Anerkennung bekommt.

Vom Küchenchef zur kulinarischen Leitung – von schädlichen Traditionen zu einer modernen Unternehmensstruktur in der Gastronomie

18. Apr 2024

Wir haben im Nobelhart & Schmutzig den Küchenchef abgeschafft. Das heißt: Micha Schäfers Stelle nennt sich ab sofort kulinarische Leitung.

Bevor Sie sich nun Sorgen um die Zukunft Ihrer besemmelbröselten Babykohlrabis und Liebstöckel-Radieschen machen, geben wir direkt Entwarnung: Für Sie bzw. an unserer Speisefolge ändert sich nichts. Denn Micha entwirft auch weiterhin unsere Speisefolge, probiert und kuratiert Lebensmittel, entwickelt Gerichte, verantwortet die Anbauplanung mit unseren fantastischen Erzeuger*innen und betreut unsere Auszubildenden.

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Was also ist anders?

Unsere Kommunikation, die ab sofort die tatsächliche Arbeitsteilung in der Küche widerspiegelt. Die Wertschätzung, die wir damit unserem Team und auch Micha gegenüber ausdrücken. Und vor allem das Zeichen, das wir damit hinsichtlich der Weiterentwicklung unserer Branche setzen möchten.

Durch diese Umbenennung bzw. -strukturierung tragen wir einer Tatsache Rechnung, die schon lange Realität im Nobelhart & Schmutzig (und eigentlich überall) ist: Es sind viele Hände, die die tägliche Arbeit verrichten. Denn auch wenn Micha weiterhin die kreative und konzeptionelle Verantwortung für nobelharte Kulinarik trägt, liegt die operative Durchführung de facto im ganzen Team. Und das gehört honoriert.

Diese Tatsache hinter dem griffigen Begriff “Küchenchef” zu verstecken, ist Standard in der (Spitzen-)Gastronomie. Auch wir haben das seit unserer Eröffnung 2015 ziemlich unreflektiert übernommen. Jedoch haben wir uns in den letzten drei Jahren intensiv mit der Fragestellung beschäftigt, wie wir wirklich gute und nachhaltige Arbeitsplätze in der Gastronomie schaffen können: Mit vernünftigen Arbeitsbedingungen, einem ordentlichen Gehalt, in einem wertschätzenden Umfeld. (Ein Teil dieser Anstrengung ist zum Beispiel auch unser Guide of Conduct.)

Im Zuge dieser Analyse haben wir Strukturen und Stellenbeschreibungen mit dazugehörigen Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen genau untersucht. Dabei haben wir festgestellt, dass die auch in unserer Küche gängigen, traditionellen Bezeichnungen nicht nur nicht zutrafen, sondern gleich zwei Parteien schadeten: Der ziemlich hart arbeitenden, aber in der Kommunikation bislang recht gesichtslosen Belegschaft genauso wie dem (damaligen) Küchenchef selbst.

Ersteres dürfte dabei auf der Hand liegen: Jeden Tag übernehmen unsere Mitarbeitenden gemäß ihres Aufgabengebietes und ihrer Erfahrung viel Verantwortung und sorgen dafür, dass Sie einen tollen Abend bei uns haben. Dazu muss Micha nicht bei jedem Schritt anwesend sein. Unser kompetentes und eingespieltes Team weiß, seine Vision operativ umzusetzen. Und dafür verdient es entsprechende Anerkennung, die wir ab sofort auch öffentlich klarer aussprechen möchten. Namentlich sind für die operative Leitung Alexander Jordt, Aljoscha Füting zuständig.

Doch wie nutzt der neue Titel dem nunmals ehemaligen Küchenchef selbst?

Micha darf sich nun voll und ganz auf das konzentrieren, was Alleinstellungsmerkmal ausmacht – ohne eine Stellenbeschreibung, die irgendwie suggeriert, er müsse doch eigentlich in jedem Moment in der Küche anwesend oder in jedem operativen Thema involviert sein.

Dies halten wir für eines der größten systemischen Probleme in unserer Branche: Die Überforderung, die quasi per Definition im Job “Küchenchef*in” verankert ist. Zu jeder Zeit 120% kreativ und operativ verantwortlich zu sein, ist von keiner Einzelperson zu leisten – bzw. es ist zu leisten und wird auch von entsprechend vielen so geleistet, jedoch mit entsprechenden Folgen und Begleiterscheinungen. Darin liegt auch eine der Ursachen für die oft beschworenen “toxischen” Zustände in Küchen, mit ihrem zentralen Topos des schreienden, koksenden Küchenchefs.

Gut, in unserer Küche wurde nie geschrien oder geschnupft. Micha ist eher der Typ, der implodiert.

Dennoch wünschen wir, dass in unserer Industrie endlich mal Klartext diesbezüglich gesprochen wird. Allein mit der kreativen und konzeptionellen Leistung eines*einer Küchenchef*in wären locker 50 Stunden die Woche gefüllt. Die Erwartung, dass selbige*r dazu noch jedes Mise-en-place mitgestaltet, den Abendservice leitet, HACCP-Pläne persönlich kontrolliert, sich um den Müll sowie die Reinigungsmittelbestellung kümmert, Handwerker*innen- und Hausmeister*inneneinsätze koordiniert, Dienstpläne schreibt und Mitarbeitendengespräche führt, ist weder realistisch noch wünschenswert. Bei solchem Druck ist es kein Wunder, wenn Küchenchefs trinken; das Bedürfnis nach derartigen Regulativen ist bei planmäßiger Überforderung praktisch Teil der Stellenbeschreibung. Und genau das sollten wir überdenken.

Mit Michas Umdeklarierung bekommt er die Chance, auch seine unverwechselbare Handschrift weiter zu verfeinern. Wir freuen uns, dass er nun auch jenseits der nobelharten Küche anzutreffen ist, sich in Popups oder Kollaborationen kreativ betätigt und so auch wieder wertvolle Impulse zurück zu uns an die Friedrichstraße trägt.

Vor allem freuen wir uns aber, dass wir ein tolles Team haben, welches die operative Verantwortung in vollem Maße trägt und Ihnen jeden Tag einen schönen Abend bereitet – und dafür nun endlich entsprechende Anerkennung bekommt.